Mit der Rheinfähre ist es ein Katzensprung, von Kappel rüber nach Rhinau. Der Ort wirkt verschlafen, fast ausgestorben. Kein romantisches Fachwerkdorf, wie sonst im Elsass, sondern nüchterne Nachkriegsbauten prägen das Bild. Die moderne Betonkirche steht vor den Überresten der alten gotischen Kirche. Der Krieg hat hier Spuren hinterlassen.

Auch am Ortsende findet sich eine solche Spur, und doch ganz anders, wie es zu erwarten wäre.

1940 übernahm der Fabrikant Heinrich List aus Teltow die ortsansässige Textilfabrik und begann dort Elektronikteile für Flugzeuge herzustellen. In einem neun, modernen Industriebau begann die Produktion. Architekt war Ernst Neufert, der 1936 mit seiner „Bauentwurfslehre“ – quasie der Bibel für Architekten – bekannt wurde.

Es war auch eine Arbeitersiedlung für die vorgeshenen 10.000 Beschäftigten geplant (tatsächlich arbeiteten im Sommer 1944 max. 2.000 Arbeiter dort). Realisiert wurden allerdings nur zwei „Meisterhäuser“ in unmittelbarer Nachbarschaft zur Fabrik. Ob und wie weit Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter eingesetzt wurden, ist mir nicht bekannt. Angesichts der Bedeutung und dass in der Fabrik auch Teile für die V2-Raketen gebaut wurden, ist jedoch davon auszugehen. Zumindest bleibt das Gebäude ein Zeugnis der bewegten Vergangenheit der Grenzregion und des Elsass.

Und es zeigt sich die Zerissenheit Neuferts im Dritten Reich an diesem Bau. Einerseits arrangierte sich der einstige Mitarbeiter von Gropius mit dem Regime, auf der anderen Seite versuchte er seiner Bauhaus-Architektursprache treu zu bleiben und flüchtete in den Industriebau, wo er die meisten Chancen sah, seiner Haltung treu zu bleiben. Eben auch hier in Rhinau.

Somit ist die „Usine List“ ein Zeugnis der Zerrissenheit. Es wäre zu wünschen, dass dieses in vielerlei Hinsicht bedeutsame Gebäude erhalten bleibt und aus dem Dornröschenschlaf erweckt wird.

Nach dem Krieg wurden die Gebäude wieder als Textilfabrik genutzt. Seit einigen Jahren stehen sie nun leer und rotten vor sich hin. Seit 2009 steht es als „Monument historique“ unter Denkmalschutz. Eine neue, sinnvolle Nutzung ist derzeit nicht absehbar.